Die allermeisten Touristen, die Prag erstmalig besuchen, stellen fest, dass es sich um eine klassisch „schöne“ Stadt handelt. Und eine sichere noch dazu. Zudem war und ist Prag aber immer wieder zentraler Dreh- und Angelpunkt für Schlüsselmomente der Geschichte – und damit ist nicht nur der Prager Fenstersturz gemeint, der 1618 den Dreißigjährigen Krieg auslöste. Auch wenn man sich nur auf das 20. Jahrhundert fokussiert, ist die Historie gigantisch – und man kann sie in der Stadt auch heute noch hautnah erleben.
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Ein kaiserlicher und königlicher Schmelztiegel
Beginnen soll dieser geschichtliche Rundgang um das Jahr 1900. Damals war Prag nicht nur eine der wichtigsten Städte in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarns und Hauptstadt des Königreichs Böhmen. Es war vor allem ein hochkultureller Schmelztiegel.
Um 1900 lag die Bevölkerungszahl knapp unter 500.000 Menschen – knapp zehn Prozent davon sprachen Deutsch. Aus heutiger Sicht mag das viel sein, damals jedoch bereits wenig. Denn nur 50 Jahre zuvor hatten deutschensprachige Menschen in der Stadt noch die Bevölkerungsmehrheit gestellt. Erst als Prag im Zuge der Industrialisierung stark anwuchs, wuchs auch der tschechische Bevölkerungsanteil ebenfalls stark.
Dennoch war Prag damals ein konzentrierter Spiegel des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn. Deutsche, Ungarn, Tschechen, Juden, Industrielle, kleine Arbeiter und vor allem Künstler, Schriftsteller und Gelehrte wirkten hier. Für Franz Kafka war es sogar die wichtigste Wirkungsstätte überhaupt – obwohl die Stadt in seinen Werken nur selten vorkommt.
Tipp: Am Moldau-Ufer, an der Cihelná-Straße befindet sich das kleine, aber feine Kafka-Museum. Nicht nur für Literaten ein Muss. Das ähnlich wichtige Kafka-Memorial steht auf der anderen Flussseite im Stadtteil Staré Město.
Ferner lässt sich auch die immense architektonische Bedeutung Prags kaum ermessen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab sich hier die Weltelite der Architekten die Klinke in die Hand. Die Adam-Apotheke, die Šupich-Häuser und das Haus Diamant zeugen noch heute vom Wirken des dem Kubismus zugewandten Architekten Emil Králíček; ab den späten 20ern kam mit der „Baba“ genannten Werkbundsiedlung Prag auch das Bauhaus in die Stadt.
Tipp: Diese Offenheit gegenüber unterschiedlichsten Architekturströmungen besteht bis heute – gut zu beobachten in der Straße Rybna, wo die gefeierte tschechische Architektin Eva Jiřičná mit dem Design-Hotel Josef ein minimalistisches Kunstwerk im Zentrum von Prag schuf, von dem aus man perfekt auf Entdeckungsreise gehen kann.
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Wir sind der Widerstand I
Wo sich so viele Freigeister aufhalten, sollte es nicht verwundern, dass dort auch viel Freiheitsliebe blühte. Das zeigte sich bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs. In dessen Verlauf hatte ganz Österreich-Ungarn immer wieder mit Demonstrationen, Arbeitsniederlegungen usw. gegen das Schlachten und den Vielvölkerstaat an sich zu kämpfen – doch nirgendwo begann der Widerstand früher und heftiger als in Prag.
Dadurch, dass in den Jahrzehnten vor dem Krieg immer mehr Tschechen in die Stadt gezogen waren, erblühte hier der Wunsch nach einem eigenen Staat, statt bloßer Mitgliedschaft in der Donaumonarchie – und während in vielen anderen Orten in Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich die Kriegsbegeisterung hochkochte, brodelte es in Prag, wo ein Großteil der Bevölkerung nicht gewillt war, für Machtambitionen und gekränkten Nationalstolz im fernen Wien zu sterben. Das ging sogar soweit, dass ein Teil sich gegen den Staat wandte und zu den Tschechoslowakischen Legionen ging, die auf der Seite der Entente gegen Deutschland und Österreich-Ungarn kämpften.
Tipp: In der Na Poříčí Straße steht heute noch das Haus der Legiobank – die Bank der tschechoslowakischen Legionäre, die kurz nach dem Krieg gegründet und mit einer imposanten Fassade versehen wurde.
Es verwundert nicht, dass Prag dann auch einer der wichtigsten Dominosteine war, der das Ende der Doppelmonarchie einläutete: Am 28. Oktober 1918 übernahm der bereits im Juli gegründete Národní výbor československý, der Tschechoslowakische Nationalausschuss, von Prag aus die Verwaltung über ganz Böhmen und gründete schließlich den tschechoslowakischen Staat.
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Spielball der Weltpolitik
Prag hatte viel Blut und Tränen in die Entstehung der Tschechoslowakei investiert. Der Lohn für die Mühen: Die Stadt blühte gleich nach dem Krieg wie eine Rose auf. Umliegende Kommunen wurden eingemeindet, mit dem noch heute (dem Militär gehörigen) Flugplatz Kbely bekam die Hauptstadt eine Luftverkehrsanbindung, die Wirtschaft zog an.
Der Aufschwung ging sogar soweit, dass die größte Bauruine der Stadt – der Veitsdom – der seit den 1400er Jahren brach lag, fertiggestellt und 1929 feierlich eingeweiht wurde.
Tipp: Vom Café Oblaca im Fernsehturm hat man den vielleicht ungetrübtesten Blick auf den Veitsdom und die Stadt überhaupt.
Wohl in ganz Europa gab es in den „Roaring 20s“ kaum eine Stadt, in der mehr los war – doch als 1929 die Weltwirtschaftskrise begann, wurden die exportorientierte Stadt und das ganze Land wie von einem Hammer getroffen.
Die ganzen 30er Jahre über ging es der Tschechoslowakei schlecht. Das so aufblühende kulturelle und wirtschaftliche Leben wichen Arbeitslosigkeit und einem stark sinkenden Lebensstandard.
1938 kam es zum deutschen Einmarsch im Sudetenland der Tschechoslowakei – dessen Abtretung das Ergebnis einer langen Unterwanderung der Prager Regierung durch sudetendeutsche Politiker war. Doch der Machthunger Hitlers war mit diesem „Anschluss“ längst nicht gestillt. Er wollte eine vollständige Antwort auf die „tschechoslowakische Frage“. Dazu kam ihm gelegen, dass auch die Tschechoslowakei ein Vielvölkerstaat war:
Schon im September 1938 zerbrach das Land unter dem Druck von außen und innen in die Zweite Republik, genannt Tschecho-Slowakei. Im März des darauffolgenden Jahres erklärten sich die Slowaken für unabhängig und solidarisierten sich mit Deutschland. Prag intervenierte mit Truppen, doch es nützte nichts: Durch die Untätigkeit Großbritanniens, Frankreichs und Polens ermuntert, marschierten die Deutschen ab dem 15. März in das ein, was von der Tschechoslowakei noch übrig war und erreichte am gleichen Tag auch Prag – die tschechische Armee ergab sich der erdrückenden Übermacht kampflos. Außer „scharfem Protest“ der Großmächte, die einen Waffengang gegen Hitlerdeutschland fürchteten, hatte es kaum Konsequenzen.
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Wir sind der Widerstand II
Fortan war die Tschechoslowakei das deutsche „Protektorat Böhmen und Mähren“. Geführt wurde der Marionettenstaat ab 1938 von Konstantin von Neurath, der in Prag residierte – allerdings führte er seine Aufgabe nach Ansicht der deutschen Regierung nicht „hart“ genug aus.
Aus diesem Grund wurde er beurlaubt. An seine Stelle trat Reinhard Heydrich – Generalleutnant der SS, Chef des Reichssicherheitshauptamtes und einer der wichtigsten Architekten des Holocausts.
Selbst in der großen Riege menschenverachtender Massenmörder im NS-Staat stach Heydrich durch seine besondere Brutalität noch hervor – Spitznamen wie „Blonde Bestie“ oder „Todesgott“ liefen ihm voraus, als er in Prag eintraf. Sofort nachdem er dort „Stellvertretender Reichsprotektor Böhmen und Mähren“ geworden war, begann er sein blutiges Werk: Tausende Tschechen ließ er noch in den ersten Monaten in KZ deportieren, wo die meisten starben. Er ließ das KZ Theresienstadt errichten (heute als Mahnmal zu besichtigen), zwang den verbliebenen Rest der jüdischen Bevölkerung hinter dessen Stacheldraht und erließ hunderte Todesurteile – und hatte bald den Spitznamen „Henker von Prag“ weg.
Aber: Die Deutschen hatten schon bei ihrem Einmarsch nicht verhindern können, dass unzählige tschechische und slowakische Militärangehörige ins Ausland flohen. Sie bildeten die Tschechoslowakische Exilarmee. Getrieben davon, ihre Republik zu befreien, kämpften sie aufseiten der Alliierten – und noch mehr.
Am frühen Morgen des 29. Dezember 1941 sprangen zwei von den Briten in einem Bomber eingeflogene Männer in die eiskalte Winternacht über Nehvizdy bei Prag ab. Jan Kubiš, ein Tscheche, und Jozef Gabčík, ein Slowake, hatten zu dem Zeitpunkt eine mehrmonatige Kommandoausbildung der britischen Spezialeinheit SOE hinter sich – harte, trainierte Einzelkämpfer.
Ihre Mission hatte den Codenamen „Anthropoid“. Nach der Landung tauchten die Männer unter den Deckmantel des tschechischen Widerstandes – um erst am 27. Mai 1942 wieder aufzutauchen. Heydrich fuhr an diesem Morgen von seinem Anwesen Panenské Břežany zu seinem „Regierungssitz“ in der Prager Burg. Dort kam er jedoch nie an. Kubiš und Gabčík lauerten seinem Cabrio in einer Kurve auf, durchlöcherten es erst mit Maschinenpistolen und warfen dann eine Granate in den Innenraum. Der schwerverletzte Heydrich konnte zwar noch im nahegelegenen Bolowka-Krankenhaus operiert werden, überlebte aber die danach eintretende Sepsis nicht und starb am 4. Juni.
Und auch wenn die Deutschen danach blutigste Rache übten, letztendlich sowohl die Attentäter wie weitere Widerstands-Mitglieder ermordeten und im „Massaker von Lidice“ das gleichnamige Örtchen dem Erdboden gleichmachten, war Heydrich tot, die Tschechoslowakei hatte sich erfolgreich gegen die „Blonde Bestie“ zur Wehr gesetzt.
Tipp: Die St.-Cyrill-und-Method-Kirche ist heute das Symbol für den Widerstand und hat in der Krypta eine Gedenkstätte für das Attentat errichtet.
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…mit menschlichem Antlitz
Die Exilarmee kämpfte hart an allen Fronten. Konnte aber nicht verhindern, dass die Tschechoslowakei 1945 in den Bannkreis der Sowjetunion geriet. Allerdings muss man dem Land zugutehalten, dass es das mit Abstand „unbequemste“ Mitglied des Warschauer Paktes (WP) war.
Prag forderte und erhielt während der gesamten Sowjetzeit immer mehr Autonomie als die anderen Nationen. Doch in den 1960ern befand sich das Land abermals in einer wirtschaftlichen Krise. Dies auch deshalb, weil die kommunistische Führung ungleich zu anderen WP-Nationen und der Sowjetunion selbst noch in härtester stalinistischer Manier regierte – bis der erste Sekretär der kommunistischen Partei, Alexander Dubček, ab 1968 Reformen begann, die das Land liberalisieren sollten. Einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ wollte Dubček schaffen. Doch den Hardlinern im Kreml war das nicht geheuer.
Die wenigen, nicht nur kalendarischen Frühlingsmonate wurden Ende August 1968 blutig beendet, als Truppen der anderen WP-Staaten einrückten und jegliche Opposition blutig niederschlugen.
Und auch wenn die Sowjets bis 1991 im Land verblieben, konnten sie doch eines nicht verhindern: Immer wieder gingen von Prag freiheitliche Impulse aus. Sie gipfelten im Sommer und Frühherbst 1989, als tausende DDR-Bürger auf das Gelände der westdeutschen Botschaft in Prag flüchteten und von dort nach viel Überzeugungsarbeit von Bundesaußenminister Genscher auch nach Westdeutschland ausreisen könnten. Sie konnten es nur, weil die Prager Polizisten aktiv wegsahen, als die Ostdeutschen über den Botschaftszaun klettern. Auch die Beamten hatten genug von der kommunistischen Diktatur.
Damit wurde Prag ein letztes Mal in diesem so kurzen 20. Jahrhundert zum historischen Schauplatz, indem es den ersten Dominostein anstieß, der letztendlich den kommunistischen Ostblock zerlegte und die Nationen zu Demokratien werden ließ – und dessen Geschichtsspuren überall in der Stadt zu finden sind.
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